Die Münchner Turmschreiber zum 80. Geburtstag von Gerhard Polt, der 2008 den „Bayerischen Poetentaler“ erhalten hat.
Lieber Herr Polt,
auch wenn Sie sich nicht fragen, warum sich die Münchner Turmschreiber erst eine Woche nach Ihrem 80. Geburtstag bei Ihnen melden, so wollen wir Ihnen auf diese nicht gestellte Frage doch eine Antwort geben.
Sicher kennen Sie die Regel, die in Bayern gilt: „Melde Dich keinesfalls am Geburtstag eines Menschen bei diesem, sondern frühestens erst eine Woche später!“
Der Tag der Geburt ist nämlich kein Grund zum Feiern, da der Vorgang der Geburt nach überzeugender Aussage von Psychologen für jedes Kind ein höchst traumatischer Prozess ist, bei dem das Kind ohne Vorwarnung aus der Geborgenheit des Mutterleibes nackt und bloß in eine feindliche Welt hinausgepresst wird, was beim Kind zu Quetschungen und Atemnot mit dadurch hervorgerufener Blaufärbung führt und von ihm mit erbärmlichem Schmerzgebrüll beantwortet wird. Warum um alles in der Welt soll ein Mensch nun jedes Jahr an den Tag erinnert werden, an dem er diese Torturen über sich ergehen lassen musste? Das ist doch Sadismus pur!

Das Kind braucht nach der Geburt mindestens eine Woche, um sich an die lebensfeindliche Umwelt einigermaßen zu gewöhnen, sodass auch eine alljährliche Erinnerung an die Geburt allenfalls erst nach jeweils einer Woche einigermaßen akzeptabel ist. Das ist auch der Grund, warum in Bayern erst lange nach der Geburt die Taufe stattfindet, bei der ein Mensch seinen Namen erhält. In Bayern wird deshalb, wie Sie natürlich wissen, der Namenstag mehr gefeiert als der Geburtstag, was heute leider die meisten vergessen haben.
Es gehört daher zum primitivsten Anstand, sich bei einem Menschen frühestens eine Woche nach dem eigentlichen Geburtstag zu melden. Stattdessen ersticken die Gratulanten das Geburtstagskind üblicherweise genau am Geburtstag mit Dutzenden Zuneigung heuchelnden Geburtstagsgrüßen, erinnern es dadurch aber nur an das einst erlittene Geburtstrauma und lösen bei ihm damit erneut Atemnot und Schmerzgebrüll aus, was bei Unterdrückung zu schwersten Depressionen führen kann. Am Namenstag aber herrscht Stillschweigen und kein Schwein gratuliert einem da.
Viele von uns, lieber Herr Polt, haben unsere Mitwelt darauf hingewiesen, falls diese es denn nicht lassen kann, erst eine Woche nach dem Geburtstag an uns heranzutreten. In Ihrem Fall ist das (7. Mai + 7 Tage) der 14. Mai, an dem man sich frühestens bei Ihnen melden kann. Aber niemand darf natürlich von Ihnen erwarten, dass Sie sich bei ihr oder ihm dann auch noch dafür bedanken. Denn wer sagt denn, dass ein Mensch überhaupt an seinen Geburtstag erinnert werden will?
Gratulanten pflegen bedauerlicherweise nicht erst zu fragen, ob der Geborene es wirklich gestattet, dass sie ihn jedes Jahr aufs Neue daran erinnern, dass er vor Jahren einmal auf die Welt gepresst worden ist. Ganz besonders boshaft ist es, dass einen, je älter man wird, umso mehr geballte Gratulations-wunschladungen förmlich erdrücken. Von welchem Sadismus sind Menschen eigentlich getrieben, wenn sie einem 80-Jährigen weitere 50 Lebensjahre mit zunehmender Gesundheit wünschen und dabei auch noch betonen, dass das liebe Geburtstagskind es sich die kommenden Jahre recht gemütlich machen soll im Kreis seiner Lieben, die oft gar nicht mehr vorhanden sind.
Lieber Herr Polt, wenn Sie nun erwarten, dass wir Turmschreiber in das bekannte Liedchen: „Wie schön, dass Du geboren bist, wir hätten Dich sonst sehr vermisst“ einstimmen, müssen wir Sie abermals enttäuschen. Wir hätten natürlich auch Sie nicht vermisst, wenn Sie nicht geboren worden wären, weil wir auch alle sonst nicht Geborenen nicht vermissen.
Wenn Sie gelegentlich wieder einmal einer Münchner Turmschreiberin oder einem Münchner Turmschreiber begegnen, brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn diese oder dieser dann kein einziges Wort mit Ihnen über Geburtstage wechseln, dessen können Sie sich sicher sein.
Es grüßen Sie
im Namen der Autorenvereinigung der Turmschreiber
Alfons Schweiggert und Franz Eder
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